Gedanken zum buchcamp 2011. Am 7. und 8. Mai fand das zweite barcamp der Buchbranche, genannt buchcamp statt. Rund 110 Teilnehmer fanden sich auf dem Mediacampus in Frankfurt ein, um über "Visionen" des Buches zu diskutieren.

Beim Barcamp

Insgesamt standen 22 Sessions auf dem Programm, von denen immer vier gleichzeitig stattfanden. Man konnte also insgesamt an 5 bis 6 Sessions teilnehmen, wobei leider oft für mich interessante Sessions gleichzeitig stattfanden, aber so ist das nun mal auf einem barcamp.

Natürlich kreiste wieder viel um das Thema Facebook, Twitter und die anderen social media Kanäle und eher weniger um Buch-Visionen als theoretische und praktische Anwendung von Marketing im Buchmarkt – einschließlich der viel bejubelten Verleihung des Virenschleuderpreises. Als ob die Buchbranche nicht schon lange unter einer Preisschwemme leiden würde, auch wenn es konkret mal kein literarischer, sondern ein Marketing-Preis ist und überraschender Weise einer der drei Preisträger dann doch ein literarisches Projekt war und keine Marketingaktion zum Buch (was mich für die Preisträgerin Marion Schwehr (Twitter: @marionschwehr) doch ganz besonders freut).

Über allem schwebte das scheinbare Damoklesschwert des E-Books und seine Folgen: Wird es das Print-Buch verdrängen? Was passiert mit den Buchhändlern, was mit den Verlagen? In einer Session wurden Verlage und Buchhändler sogar schon mal aus dem Geschäftsmodell gestrichen, man habe dort die Literaturagenten und Autoren direkt im Visier – interessanterweise nicht den Leser. Die Antwort auf die Zukunft des Buches wird also wohl noch einige Zeit dauern, auch auf dem buchcamp fehlten dazu Ein- und Weitsichten, zumindest in den Sessions.

Das Prinzip Buch

Eine der spannendsten Sessions war die von Wibke Ladwig (@sinnundverstand) und Wenke Richter (@digiwis) geleitete Diskussionsrunde „Prinzip Buch? WTF!“ (WTF steht für ‚what the fuck‘). So genau lässt sich nämlich gar nicht definieren, was ein Buch ist: Das gedruckte Papierbuch („totes Holz“ von einigen genannt), oder greift es viel weiter, auch über das E-Book hinaus, bis hin zu multimedialen Inhalten?

Stephen King nannte das Buch einmal „Angewandte Telepathie, der kürzeste Weg vom Kopf des Autors zum Kopf des Lesers“. Eine Definition, die ich sehr treffend finde, und auch in die Gesprächsrunde eingebracht habe. Zeigt sie doch, wie sehr sich die Branche im Augenblick um sich selbst dreht und die beiden wichtigsten Dinge zu verdrängen beginnt, die ein Buch ausmachen: den Autor, der den Text erst schafft und den Leser, der sich auf die Gedankenübertragung des Autors einlässt und ihm in seine Gedankenwelt folgt.

Dabei ist es erst einmal unerheblich, um welche Art Buch es sich handelt. Nachschlagewerk, Fachbuch, Roman, Gedichtband. Alle arbeiten auf dieses Weise, und zwar unabhängig davon, wie sie physikalisch präsentiert werden. Seine Essenz, die geistige Arbeit, das Schaffen und Vermitteln von Wissen oder Textkunst ist nicht an Leim, Papier und Druckerschwärze gebunden. Das scheint bei vielen Buchmenschen noch nicht so recht durchgedrungen zu sein. Oder wie es Steffen Meier (@steffenmeier) ausdrückte: Früher gab es ein Endgerät, das Buch; heute haben wir eben 10 verschiedene Endgeräte.

Content, Content, Content! Und an den Leser denken!

Das dicke Lexikon ist schon längst von Wikipedia verdrängt worden (wobei hier Masse nicht gleich Klasse ist und Schwarmintelligenz nicht eine gute Redaktion ersetzt – aber das ist eine andere Diskussion) und fristet sein Dasein höchstens noch als schöner Buchrücken im Regal. Fachbücher profitieren eindeutig von den neuen Möglichkeiten, ganz besonders wenn man ihre Wissensvermittlung unter dem Gesichtspunkt der Vergrößerung des Wissens sieht: Fachbücher, die sich quasi von selbst immer auf den neuesten Stand der Forschung bringen – wer möchte das nicht?

Aber wie ist das mit der Belletristik, wie ist das mit dem Geschichtenerzählen? Seit einigen Wochen macht das Schlagwort vom social reading die Runde. Mir fiel dazu spontan dieser alte Telekom-Werbespot aus den Anfängen des Mobilfunks ein: „Hast du keine Telly, guckst du nur.“ Oder umgedichtet für die Buchbranche „Hast du kein social reading, liest du nur.“

Man denkt doch an den Leser, will ihn einbinden, will ihn mitnehmen! Was jammere ich also? Weil der Leser eigentlich gar nicht auf dem buchcamp war. „Wir alle Lesen doch, wir sind alles Leser!“ wurde mir entgegengehalten, als ich darauf hinwies, ob jemand die Leser gefragt hat, ob sie eine bestimmte Entwicklung wollen. Nein. Sind wir nicht, wir sind keine Leser. Wir sind Leute, die sich mehr oder weniger professionell mit der Herstellung von Büchern und deren Verkauf beschäftigen. Wir sehen Bücher anders. Ich merke das ganz stark an mir selbst. Seit ich nicht mehr nur Konsument bin, sondern auch Autor und Verleger, sehe ich Bücher anders. Mein Leseverhalten hat sich geändert, meine Antennen nehmen jetzt Dinge wahr, die mir vorher verborgen waren. Ich bin überzeugt davon, dass es andern genauso geht. Ich bin mit Sicherheit kein typischer Leser mehr.

Social Buzzword Bingo

Auffällig für mich ist – man möge es meiner Geburt Anfang des zweiten Drittels des letzten Jahrhunderts zuschreiben – dass die Zahl der Worthülsen (altdeutsch für Buzzwords) immer mehr zunimmt und konkrete Überlegungen verdrängen. Ganz besonders heiß gehandelt wird, was mit dem Wort ‚social‘ beginnt. Social learning, social reading, social media: was nichts anderes heißt, als dass man gemeinsam etwas macht, aber nicht persönlich, sondern im Internet via Facebook, Twitter, Youtube oder was auch immer für social networks (da ist es wieder!) man benutzen möchte. Teile und herrsche im Informationszeitalter.

In einer der Sessions wurde ein System der Buchproduktion vorgestellt, dass das social reading ganz weit vorantreibt. Das Buch, oder besser der Text (altdeutsch für Content) ist demnach nur noch eine Datenbank aus Wörtern, die in Beziehung zueinanderstehen. Zu jedem Wort kann der Autor, der Lektor, der Literaturagent, der Verlag und – hier wird’s endgültig social – auch der Leser Bilder, Notizen, Facebook-Kommentare, tatsächlich jede beliebige im Netz verfügbare Information (einschließlich Werbung und Spam – klar, oder?) verknüpfen. Damit es auch wirklich social ist, also alle etwas davon haben, läuft die Information nicht nur in eine Richtung, sondern auch wieder zurück ins Buch (das natürlich nun kein Print-Produkt mehr ist, sondern eine Website hinter einer Bezahlschranke (altdeutsch für paywall), die man mit seinem Lesegerät (altdeutsch für Reader) aufsucht. Von den rechtlichen Problemen, die das mit sich bringt (Urheberrechte, Datenschutz etc.) abgesehen visionär, ohne Zweifel. Ein Buch, das sich durch den Leser verändert.

Muss alles gemacht werden, was möglich ist?

Ich gebe zu, da schlummern zwei Seelen in meiner Brust. Auf der einen Seite kann es spannend sein, wenn Autor und Leser in Interaktion treten. Es kann auch spannend sein, wenn sich Leser untereinander austauschen. Aber will ich wirklich in einem Krimi, kurz bevor der Mörder überführt wird, 263 Facebook-Kommentare eingeblendet bekommen, in denen mindestens ein Drittel erklären, das auf den nächsten 150 Seiten herauskommt, dass der Verhaftete unschuldig ist und der vermeintliche Zeuge der Täter? Nein. Ich will es als Leser nicht, weil es meinen Spaß an der Geschichte kaputtmacht, und weil es mich aus der Geschichte wirft. Und ich will es als Autor schon gar nicht, denn ich habe viel Mühe darauf verwendet, den Leser auf eine falsche Fährte zu führen, ihn Wort für Wort in meinen Bann zu ziehen, hab ihn mit den Helden leiden und die Bösewichter verfluchen lassen. Ich will nicht, dass sich in diese Beziehung jemand einmischt und meinem Bannspruch aufhebt.

Oder am Beispiel Bildband: Da schickt man einen Top-Fotografen los, der oft tagelang auf eine bestimmte Situation lauert, der hochwertige Fotos schießt, um dann quasi als Rücklauf im Buch mit dem Handy gemachte Amateuraufnahmen mit dem Kommentar „So toll ist es da aber gar nicht.“ zu bekommen.

Ein zweischneidiges Schwert also, oder wie es eine Teilnehmerin sinngemäß formulierte: „Als Verlag bürge ich für eine bestimmte Qualität. Das kann ich nur, wenn ich die Kontrolle über den Inhalt habe.“ Beim Übertragen des user generated content (aufgemerkt, ihr Worthülsenfreunde!), wie man es im Web 2.0 kennt auf das Buch geht diese Kontrolle natürlich verloren oder kostet soviel Zeit und Arbeit, dass es sich nicht mehr rechnet.

Ähnlich sehe ich es mit den sogenannten enriched ebooks, also mit Multimediaelementen angereicherten E-books. Für einen Reiseführer mag es nützlich sein, ein Video einzuspielen, zusätzliche Informationen anzuzeigen oder bei der Restaurantwahl behilflich zu sein. Aber möchte ich bei ‚Krieg und Frieden’ Kanonendonner hören, während ich lese, bei Pilcher-Romanen Bilder von Cornwall oder gar Hinweise auf Ferienwohnungen sehen? Will ich wirklich mitten im Goethe-Gedicht Facebook-Kommentare lesen? Mich persönlich graust es da eher.

Was bleibt dann vom Prinzip Buch?

Solche Bücher mögen wohl Fans finden, auch daran habe ich keine Zweifel. Und für Fachbücher und Lexika sehe ich den Nutzen deutlich vor mir. Ich frage mich vielmehr, ob das überhaupt noch Bücher sind, in dem Sinne, wie Stephen King es beschrieb: Gedankenübertragung zwischen Leser und Autor; oder ob so etwas nicht schon längst eine eigene erzählende Kunstform ist, wie Film, Theater, Comic oder Games. Wenn man diese Frage mit ‚Ja, es ist etwas Eigenes‘ beantwortet, dann kommt man dem Prinzip Buch, wie es der Börsenverein ausgerufen hat, auch auch auf die Schliche: Es ist der Versuch eine neue Art Kunst, die sich da entwickelt, mit dem Siegel des guten alten Print-Buches zu versehen, um sich auch hier als zuständig zu positionieren. Keine Vision, nur Platzhirschverhalten.

Visionslose Visonäre

So bleibt denn vom buchcamp 2011 die Erkenntnis, dass es trotz ausgerufenem Motto „Visionen zulassen“ eben diese weitgehend fehlten. Es gab eine Menge Marketing-Bohei – für meinen Geschmack eher zu viel – und zu wenig Konkretes, mal ganz abgesehen davon, dass die Entscheider aus den Großverlagen und Konzernen gar nicht dabei waren. Die wichtigste Erkenntnis vielleicht ist diese: Bei allem social media war es für mich viel wertvoller mit den Leuten ganz real zusammenzusitzen, einen Kaffee oder ein Bier zu trinken, alte Bekanntschaften zu vertiefen und Neue zu knüpfen. In diesem Sinne sehe ich dem buchcamp 2012 doch mit Freude entgegen.