Wachen. Schlafen. Schlafen und Träumen. Und wieder Wachen. Sonnenlicht glitzert durch Bäume. Blätter fast so groß wie seine Hand. Schatten spielen Fangen mit den Sonnenstrahlen auf seinem dunklen Gesicht. Seine Augen sind geschlossen, die Füße hat er auf die Parkbank hochgelegt. Der Duft von trockenen Gräsern und das Summen der Insekten erinnern ihn an zu Hause. Träumen – schlafen – vergessen. Die Parkbank und der Sonnenschein machen es ihm leicht.

Ein Kinderlachen. N’Kele mit dem blauen TShirt und den blitzenden weißen Zähnen im schwarzen Gesicht. Die Barbie-Puppe, der ein Arm fehlt, fest an sich gedrückt. Matuko, der ihr immer schwanzwedelnd hinterher lief und dessen Fell ganz gelb ist vom Staub der Savanne. Über allem die unbarmherzige Sonne, kein Entkommen unter den trockenen Baobab-Bäumen; die Gräser ganz strohig, die Regenzeit noch weit und das Summen der Insekten überall. N’Keles Lachen, ihre Rufe: „Papa! Papa!“. Und dann der Schatten.

Er fährt hoch aus seinem Tagtraum, starrt in den wolkenlosen Himmel über ihm. Kinderlachen. Menschen spazieren vorbei, beachten ihn kaum. Weiße Menschen. Er setzt sich auf, stützt die Ellenbogen auf die Knie und schlägt die Hände vor das Gesicht, spürt die Narben auf seinen Wangen. Krieger sagen sie und leiser: Schande. Er nimmt die Hände runter und atmet tief durch. Die Blätter des Ahornbaums rascheln im Sommerwind, zaubern Schattenmuster rings um ihn her. Kinderlachen, drüben vom Brunnen. Er starrt hinüber, sieht die Kinder: Plantschen, Wasser verschwenden. Alles im Überfluss: Schatten, Wasser, weiße Kinder, weiße Menschen, Lachen. Er fährt sich mit den Händen durch das kurzgeschnittene schwarze Haar, ohne die Kinder am Brunnen aus den Augen zu lassen. Er weiß, N’Kele kann nicht dabei sein und doch …

N’Kele kommt auf ihn zu gerannt. Mit dem blauen T-Shirt und den weißen Zähnen und der Barbiepuppe, der ein Arm fehlt. Sie ruft „Papa, Papa!“ Über ihm die grelle Sonne, kein Entkommen. Dann kommt der Schatten und bevor er sich umdrehen kann, schlägt etwas gegen seinen Kopf. Er liegt im Staub und in seine Augen läuft Blut, tropft in die trockenen Gräser. Ein Stiefel bohrt sich in seinen Rücken, er hört Flüche auf Arabisch und Französisch und N’Keles entsetztes „Papa!“. Dann hört er den Knall. Er sieht die Puppe zu Boden fallen, sieht wie sich das blaue T-Shirt schwarz färbt, sieht N’Kele wie in Zeitlupe stürzen. Er brüllt, versucht den Stiefel von seinem Rücken abzuschütteln. Der Schatten schlägt ihm den Gewehrkolben an den Schädel, zwei, dreimal bis alles in Dunkelheit versinkt.

Menschen gehen vorbei, führen Hunde an Leinen, schieben Kinderwagen vor sich her, lachen, rauchen, telefonieren mit ihren Handys. Sie beachten ihn nicht, werfen höchstens verstohlene Blicke auf sein schwarzes Gesicht mit den Stammes-Narben. Wenn er ihnen in die Augen schaut, blicken sie weg und gehen schneller. Niemand fragt, ob da noch ein Platz frei wäre auf der Bank, ein Platz neben ihm. Sie wollen ihn nicht hier haben, hier bei ihren Kindern. Das ist schon in Ordnung, redet er sich ein. Es ist eben ein kaltes Land, selbst wenn die Sonne scheint. Er mustert seine Hände, die rissig sind, wie die trockene Erde seiner Heimat, doch seine Gedanken sind weit weg.

„Sie müssen das verstehen“ sagt der Mann hinter dem wuchtigen Schreibtisch. „Das Auswärtige Amt hat da ganz klare Richtlinien. Im Sudan gibt es keinen Krieg, nur einen ethnischen Konflikt, in den wir uns nicht einmischen. Wir können ihnen, so leid es mir tut, kein Asyl gewähren!“ Der Mann klappt die Akte zu und lächelt.

Die Sonne ist hinter den Hausdächern verschwunden, im Park gehen die Laternen an. Die Kinder sind längst zu ihren Eltern heimgegangen. Noch immer sitzt er auf der Parkbank, starrt auf seine großen Hände. Er blinzelt, als ihn der Lichtstrahl einer Taschenlampe trifft. Aus der Dämmerung schälen sich zwei grüne Uniformen. „Ausweis!“ sagt eine Stimme in befehlsgewohntem Ton. Er blickt den Mann verständnislos an. „Na komm schon, wir haben nicht den ganzen Abend Zeit!“ Er schaut auf den zweiten Polizisten, sieht dessen rechte Hand am Griff der Pistole ruhen. Dann nickt er, zieht seine Papiere aus der Innentasche seines Jacketts, und reicht sie dem ersten Polizisten. „Sudan?“ fragt ihn der Polizist mit Blick in die Papiere und er schüttelt den Kopf „Darfur.“ „Läuft bald ab.“ sagt der Polizist als er ihm die Aufenthaltsgenehmigung und den Pass zurückgibt. „Hier kannst du nicht bleiben, geh nach Hause.“ Er nickt automatisch. „Nach Hause.“ sagt er, steht auf und geht den Weg Richtung Ausgang. „Nach Hause.“ murmelt er, während ihn der Abendwind frösteln lässt.

© Peter Hellinger

Erschienen in: Feuergott