Das Zimmer riecht nach kaltem Zigarettenrauch und zu viel Parfüm. An der Rückwand steht die ganze Technik: Kamera, Bildschirme und PCs. Ein Bildschirm zeigt den laufenden Chat, ein Zweiter eine Großaufnahme des Betts. Eine einfache Tagesdecke, ein paar Kissen, ein kleiner Plüschhund. Dazwischen Sie.

Sie blickt auf die Uhr: Gleich ist es so weit, Mitternacht. Jetzt sind die ganzen Spinner da draußen. Ihr Publikum. Noch einmal überprüft sie den Sitz von BH und Höschen, streicht sich durch die Haare und zeigt dem Gesicht im Bildschirm einen Kussmund. Sie atmet tief ein und aus. Los geht’s.

Sie drückt den Knopf auf der Tastatur vor ihr, die Kamera beginnt rot zu blinken, dann schaltet sie auf rotes Dauerlicht. Showtime. Aufreizend rekelt sie sich auf dem Bett, streicht sich über die Brüste und den Bauch. Sie muss nicht lange warten. Der Chatbildschirm blinkt und verlangt ihre Aufmerksamkeit. WilderHengst28. Im rechten oberen Eck des Bildschirms wird eine Zahl weiß auf rotem Grund eingeblendet: 46. Alle 60 Sekunden verringert sich die Zahl. Alle 60 Sekunden ein Euro auf ihr Konto.

Sie lächelt, tippt „Hallo, auch wieder hier?“. WilderHengst ist einer von den Harmlosen, will meistens nur reden. Wie er wohl wirklich ist? Seine Komplimente schmeicheln ihr, und sie denkt zurück an die Zeit, als sie noch glaubte, was die Männer ihr erzählten. Besonders dieser eine Mann. Verdammter Bastard. Hat sie sitzen lassen, als sie schwanger wurde. An einem Tag war sie noch sein „Engel“, am nächsten Tag waren seine Klamotten weg und ihr Geld vom Konto. Geblieben war ihr nur Lars. Noch war er nicht alt genug, um zu verstehen, was sie hier tat.

Sie greift nach den Zigaretten, nimmt eine aus der Packung und muss lachen, als sie WilderHengsts Antwort liest. „Du hast ja recht.“ tippt sie und steckt die Zigarette wieder zurück in die Packung. Es berührt sie seltsam, dass er sich Sorgen um sie macht. Was er wohl von Beruf ist? Architekt, erinnert sie sich. Aber ob er die Wahrheit sagt? Hier lügt doch jeder. Ob er Kinder mag? Vielleicht sollte sie ihn fragen …

„Du kannst ihnen deinen Körper geben, aber lass niemals zu, dass sie deine Seele berühren.“ Juttas Stimme klingt ihr im Ohr. Jutta. Wie sehr sie sie vermisste! Eines Tages wird sie es wie Jutta machen: Ihren Spind ausräumen, ihre Tasche packen und diesen miesen Job hinter sich lassen.

Sie wird in ein hübsches Haus am Stadtrand ziehen, mit Garten und Doppelgarage, große Rhododendron vor dem Haus und Rosenbüsche dahinter. Jeden Morgen wird sie aufstehen und Frühstück machen, für Lars und für ihren Mann, den Architekt. Sie wird ihm einen Kuss auf die Wange hauchen, wenn er zur Arbeit geht, und ihm leise ein „Viel Spaß, Liebling“ ins Ohr flüstern, und er wird lachen, ihr einen Klaps geben, und das wichtigste von allem: Er wird am Abend wiederkommen, sie in den Arm nehmen und für sie da sein.

Sie starrt auf den Chatbildschirm, liest WilderHengsts letzte Nachricht. Das Haus am Stadtrand ist weg, die Rosenbüsche und die Doppelgarage. Jutta hat recht, denkt sie. Lass die Spinner nicht in deine Seele. „Klar, Schatz“ tippt sie auf der Tastatur „was immer du willst.“ Dann beginnt sie langsam ihren BH auszuziehen.

© Peter Hellinger

Erschienen in: Feuergott